Auf der Bühne: der tote Paris. Daneben Romeo, der sich vergiftet, und Julia, die sich erstochen hat. Auf der Empore: die bis in die Grundfesten erschütterten Familien Capulet und Montague, die erkennen müssen, was ihr brennender Haß angerichtet hat. Das halbdunkle Rund des Globe erfüllt ein leichter Dunst der Nebelmaschine – wie ein Symbol der Ergriffenheit, die sich  geradezu mit Händen greifen läßt. Als das Licht verlischt, kommt zögerlicher Beifall auf. So tief sitzt der Eindruck, daß wir wie aus einer Trance erwachen. Erst nach dem ersten »Vorhang« steigert sich der Applaus zu dem Orkan, den die Truppe verdient hat …

Natürlich haben wir beim Shakespeare Festival Neuss schon unzählige Male die »berühmteste Liebesgeschichte aller Zeiten« gesehen. Wir haben gute, sehr gute, charmante und mißratene Aufführungen miterlebt, und regelmäßig habe ich mich über die Ärgernisse einer schlechten Briefzustellung amüsiert (hätte Romeo bloß gewußt, was passiert war …). Dieses Mal ist das anders. Die junge, vor einem Jahr von Paul Hunt gegründete Nachfolge-Company der »Propellers« hat es in ihrer ersten Inszenierung tatsächlich geschafft, Theater auf einem solchen Niveau zu spielen, daß es einem am Ende die Sprache verschlägt. In zweimal rund 75 Minuten verleiht das Watermill Theatre aus Newbury der Tragödie eine Intensität, der sich nur hätte entziehen können, wer nicht im Saal war. Im ersten Teil Klamauk, jugendlicher Mutwille, Rangeleien, viel laute Popmusik und schließlich der gegen alle »Vernunft« geschlossene Ehebund. Kaum aber beginnt der zweite Teil, da spüren wir die Unausweichlichkeit. Der Humor wird gequält. Julias Mutter (Emma McDonald) ist nicht mehr ohne ihren Gin zu sehen. Ihr Vater (Jamie Satterthwaite) entpuppt sich als zynischer, sadistischer Tyrann – und sie selbst? Sie leistet auf eine innere Weise Widerstand, sie muß nicht brüllen, nicht schreien, nicht heulen und zähneklappern. Sie ist eine Persönlichkeit, zu allem entschlossen, nicht im mindestens »armes Opfer«: Aruhan Galieva ist eine Julia, der man’s abnimmt, daß sie mit ihrem Romeo (Stuart Wilde) bereit ist, bis ans Ende der Welt – und darüber hinaus zu gehen.

Ein Vöglein – die Nachtigall war’s oder die Lerche – hat mir inzwischen gezwitschert, daß es für die folgenden Vorstellungen und auch für die Zwölfte Nacht (»Was ihr wollt«) noch ein paar Karten gibt. Wer das in allen Rollen exzellent besetzte Ensemble in einer oder beiden Inszenierungen erleben will, sollte so bald wie möglich unter 02131 – 526 99 99 9  nachfragen und reservieren. Es lohnt sich.

Rasmus van Rijn

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